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Kommentar zu Joe Biden als neuer US-Präsident: Versöhnung für Amerika

 Wochenkommentar: Wechselbad der Gefühle

Viele Investoren haben sehnsüchtig auf das Ergebnis der nervenaufreibenden US-Präsidentschaftswahl gewartet. An diesem Wochenende wurde deutlich, dass der Demokrat Joe Biden genug Wahlleute für sich gewinnen konnte, um zum US-Präsidenten gewählt zu werden.

Ein langwieriger Prozess der Auszählung von Briefwahlstimmen in verschiedenen umkämpften Bundesstaaten fand statt, bevor Joe Biden sich einen entscheidenden Vorsprung vor dem amtierenden Präsidenten Donald Trump sichern konnte. Die erste Reaktion des Marktes ist positiv. Sowohl Aktien- als auch die Anleihenkurse haben nach einer starken Rally in der letzten Woche weiter an Boden gewonnen.

Als sich die Covid-19-Pandemie ausweitete und die US-Wirtschaft unter den Folgen litt, baute Bi-den im Vorfeld der Wahlen einen signifikanten Vorsprung in den Umfragen auf. Doch angesichts des überraschenden Ausgangs der Wahlen 2016, hüteten sich viele Beobachter davor, voreilige Schlüsse aus den Prognosen zu ziehen. Und das zu Recht. Die Umfragen haben den Umfang der Unterstützung unterschätzt, die Trump weiterhin genießt. Letztendlich sicherte sich Biden aber genügend Wählerstimmen. Trump hat seine Niederlage noch nicht akzeptiert. Er hat bereits rechtliche Schritte in Schlüsselstaaten wie Georgia, Michigan und Pennsylvania angekündigt. Es ist daher wahrscheinlich, dass eine gewisse Unsicherheit über den endgültigen Ausgang der Wahlen bestehen bleibt. Nach den Kursreaktionen zu urteilen, scheinen die Finanzmärkte aber nicht übermäßig besorgt über Trumps rechtliche Schritte zu sein.

Darüber hinaus scheint es, dass die viel erwähnte "blaue Welle", bei der die Demokraten nicht nur das Weiße Haus, sondern auch beide Kammern des Kongresses gewinnen würden, noch eine klei-ne Chance auf Verwirklichung hat. Über zwei Senatssitze wird erst in einer Stichwahl im Januar entschieden. Mit einem Kongress in Hand der Demokraten wird es für Biden leichter sein, seine Pläne zu verfolgen. Ein gespaltener Kongress, der bis zu den Zwischenwahlen im Jahr 2022 gespalten bleiben wird, macht es hingegen schwieriger, wichtige Gesetze zu verabschieden. Das wahrscheinlichste Ergebnis ist nach wie vor ein gespaltener Kongress, womit aktuell auch die Finanzmärkte rechnen.


Die Finanzmärkte

Aufgrund der sehr knappen Wahlergebnisse in vielen wichtigen Bundesstaaten waren die Märkte letzte Woche nervös und volatil. Mit zunehmender Klarheit über das Ergebnis drehten die Aktienmärkte jedoch ins Positive. Die Rally wurde von Gesundheits- und Technologieaktien angeführt, da die Ängste vor einer strengeren Gesetzgebung und einer Rücknahme der Körperschaftssteuersenkung abnahmen. An den Anleihenmärkten gingen die Renditen 10-jähriger US-Staatsanleihen deutlich zurück. 

Wie wird sich also der Ausgang der Wahlen von nun an auf die Märkte auswirken? Die Marktvolatilität ging mit zunehmender Gewissheit über die Ergebnisse zurück, kann aber leicht wieder aufflammen, solange Trump seine Niederlage nicht akzeptiert. Darüber hinaus denken wir, dass die Anleger Bidens politische Pläne und seinen Ansatz im Um-gang mit der Corona-Pandemie genau beobachten werden. Bidens politische Vorhaben, darunter ein massives Infrastrukturpaket zur Beschleunigung der wirtschaftlichen Erholung der USA und zur Bekämpfung des Klimawandels, könnten positive Auswirkungen auf den Aktienmarkt haben. Bidens Pläne könnten sich vor allem auf den Industriesektor positiv auswirken. 

Es ist zudem zu erwarten, dass die US-Außenpolitik berechenbarer wird. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass die Handelszölle zu-rückgenommen werden, wird Biden wahrscheinlich eine konstruktivere Beziehung zu China anstreben, was die geopolitische Unsicherheit verringern würde. Ein Abbau der Handelsspannungen kann sich auf den Grundstoff- und Industriesektor positiv auswirken. Da die Wahrscheinlichkeit einer Spaltung des Kongresses hoch ist, dürfte es keine großen politischen Richtungsänderungen geben, was sich positiv auf Aktien von Unternehmen aus dem Gesundheitsbereich auswirken könnte. Was den IT-Sektor betrifft, so sind die Hürden für neue Regulatorik hoch, aber für den Energiesektor und möglicherweise auch für den Finanzsektor sind gewisse regulatorische Gegenwinde nicht auszuschließen.


Corona-Pandemie

Bidens erste Priorität wird darin bestehen, die US-Wirtschaft aus der Covid-19-Krise herauszuführen. Eine Spaltung des Kongresses könnte es ihm einerseits erschweren, größere Konjunkturmaß-nahmen durchzuführen. Dies könnte sich zunächst dämpfend auf die wirtschaftliche Erholung auswirken. Andererseits wird Biden auch Schwierigkeiten haben, strenge Sperrmaßnahmen zu verhängen, da dies typischerweise von den Gouverneuren der Bundesstaaten beschlossen wird. Aber in unserem Basisszenario erwarten wir schließlich eine wirtschaftliche Erholung, die vom zweiten Quartal 2021 an Gestalt annimmt. Aus diesem Grund haben wir uns in letzter Zeit positiver zu Aktien geäußert und eine neutrale Position eingenommen. Wir glauben, dass die Anleger ihre Aufmerksamkeit auf Wirtschaftsdaten, die Möglichkeit zusätzlicher fiskalischer und monetärer Anreize und die Entwicklung von Impfstoffen richten werden. Wir beobachten die Situation an den Märkten weiterhin genau und passen unsere Anlagestrategie gegebenenfalls an. Vorerst fühlen wir uns mit unserer derzeitigen Positionierung zufrieden.


Reinhard Pfingsten,

Chief Investment Officer, Bethmann Bank

Frankfurt am Main, 9. November 2020


Foto: rarrarorro / Shutterstock.com