Wochenkommentar: Märkte zeigen weiter Stärke

Angesichts der Covid-19-Krise und ihrer Folgen, des rasanten Anstiegs der Arbeitslosigkeit, des extremen BIP-Rückgangs und der wachsenden Spannungen zwischen den USA und China (die zum Teil mit Hongkong zu tun haben) könnte man eigentlich meinen, es gebe Grund genug für fallende Finanzmärkte. Doch die Märkte sind seit ihren Tiefständen um mehr als 30 % gestiegen (sowohl in Europa als auch in den USA). Warum? Was treibt den Markt an, und kann er weiter steigen? Oder ist es nur die Hoffnung, dass es bald einen Impfstoff gibt, obwohl die Experten sagen, es könne einige Zeit dauern?
Die institutionellen Investoren und Fondsmanager an den Aktienmärkten beurteilen die Aussichten sehr pessimistisch. Das zeigt sich in ihren Berichten, Interviews mit der Finanzpresse und in Stimmungsbarometern. Sie betrachten das Glas definitiv als halb leer. Die Analysten überschlagen sich beim Senken der Gewinnprognosen geradezu. Es ist daher nicht plausibel, dass der Bullenmarkt von institutionellen Investoren und Fondsmanagern getrieben wird.
Stattdessen deuten Berichte darauf hin, dass Privatanleger für den seit März anhaltenden Bullenmarkt verantwortlich sind. Die Nachfrage nach Wertpapierdepots ist sogar so stark gestiegen, dass die Banken zeitweise keine neuen mehr eröffnet haben. Wir glauben, dass Privatanleger eine gewisse Rolle spielen, aber nicht allein für den Anstieg der Märkte um mehr als 30 % verantwortlich sind. Das Verbrauchervertrauen ist niedrig, viele Menschen sind arbeitslos geworden, und wir halten es nicht für plausibel, dass Privatanleger so sehr auf Investments aus sind, dass sie ihre Ersparnisse in einen riskanten Markt investieren. Deshalb verwerfen wir diesen Erklärungsansatz.
Was ist mit Aktienrückkäufen? Eine der Triebfedern für Bullenmärkte waren in der Vergangenheit immer wieder Aktienrückkaufprogramme der Unternehmen. Diese Rückkäufe liefen automatisch ab, und die Investoren hatten sie erwartet. Berichte über gedrosselte oder gestrichene Rückkäufe führten bei den jeweiligen Unternehmen zu Kursverlusten. Angesichts der Covid-19-Krise laufen Rückkäufe in einigen Sektoren nicht mehr so automatisch ab. Unternehmen, die auf staatliche Hilfen angewiesen sind (z. B. Fluggesellschaften), werden oft gezwungen, solche Programme zurückzufahren. Daher kommen unserer Einschätzung nach auch die Aktienrückkäufe der Unternehmen nicht als Haupttriebfeder der Märkte infrage.
Dann sind da aber noch die Stützungsmaßnahmen der US-Notenbank Fed. Jamie Dimon, der CEO von JPMorgan Chase, sagte: „Das war keine Bazooka. Die Fed hat ihr gesamtes Arsenal eingesetzt.“ Schon allein die Ankündigung der Fed reichte aus, um die Risikoaufschläge bei Unternehmensanleihen sinken zu lassen, auch auf den niedrigeren Ratingstufen. Das brachte renditehungrige Investoren von Unternehmensanleihen ab und lenkte sie in Richtung Aktien. Außerdem hat die Fed angekündigt, die Unterstützung noch weiter auszuweiten, wenngleich in einem etwas langsameren Tempo. Das könnte die Aktienmärkte noch weiter steigen lassen.
Die Tatsache, dass die Fed für die steigenden Märkte verantwortlich sein könnte, impliziert im Umkehrschluss auch, dass die Stimmung bei institutionellen Investoren, Unternehmen und Privatanlegern noch schlecht ist. Deshalb haben wir Aktien in unserer Asset-Allokation leicht untergewichtet. Natürlich kann auch die Hoffnung auf einen Impfstoff gegen das Coronavirus mitverantwortlich für die steigenden Märkte sein. Aber das hätte wenig Auswirkungen auf das künftige Wachstum, denn die Investitionen bewegen sich auf einem niedrigen Niveau. So rechnet zum Beispiel die Internationale Energieagentur damit, dass die Investitionen in den Energiesektor dieses Jahr um sage und schreibe EUR 365 Mrd. zurückgehen. Staatliche Hilfen sind an Auflagen gebunden, die traditionelle von Angebot und Nachfrage getriebene Märkte verzerren und in den meisten Fällen Ineffizienzen schaffen. Das heißt, all die Hilfen sind mit hohen Kosten und einer hohen Staatsverschuldung verbunden. In den vergangenen zehn Jahren haben wir gesehen, dass geldpolitische Anreize nicht automatisch zu Inflation führen, um die Rückzahlung der Schulden zu erleichtern. Wir glauben: Solange damit zu rechnen ist, dass die Regierungen ihre „Was auch immer notwendig ist“-Haltung beibehalten, profitieren Aktien, weil es keine Alternative gibt.
Anleihen: Keine Zeit für Pessimismus
Obwohl die Wirtschaft nach zwei Monaten der Schließungen und Ausgangsbeschränkungen nur langsam wieder erwacht, scheint die Volatilität schnell zu sinken: Der VIX-Index, der die Unsicherheit an den Märkten abbildet, steht jetzt bei 27, während der Durchschnitt seit Jahresbeginn bei 37 liegt. Die Märkte ignorieren momentan bewusst alle negativen weichen oder harten Daten und konzentrieren sich stattdessen auf positive Ankündigungen. In der vergangenen Woche ist die Risikobereitschaft an den Anleihemärkten gestiegen, nachdem die meisten Industrieländer ihre Beschränkungen lockern und vielversprechende Tests die Hoffnung auf einen Impfstoff gegen Covid-19 geschürt hatten.
In Europa profitieren die Märkte auch von der politischen Agenda. Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag für ein EUR 750 Mrd. schweres Konjunkturprogramm und eine gezielte Verstärkung des langfristigen EU-Haushalts für 2021–2027 vorgelegt. Durch diese Maßnahmen steigt die Finanzkraft des EU-Haushalts auf EUR 1,85 Billionen. Stimmen die 27 EU-Länder dem Vorschlag zu, wäre dies zweifellos positiv für die Anleihemärkte, insbesondere für Staatsanleihen der Peripherieländer, die als erstes von EU-Hilfen profitieren dürften.
Am europäischen Markt für Unternehmensanleihen ist die Gesamtentwicklung seit Anfang des Jahres immer noch negativ, wenngleich ein großer Teil der Verluste wieder aufgeholt wurde. Europäische Investment-Grade-Anleihen verzeichnen seit dem 1. Januar dieses Jahres -3 % (unbesichert) – nach -7,2 % Ende März. Hochzinstitel profitieren von der Risikobereitschaft der Investoren und verzeichnen seit Jahresbeginn eine Gesamtrendite von -7,7 % (unbesichert), nachdem sie Ende März bei -18,7 % ihren Tiefpunkt erreicht hatten. Die Risikoaufschläge sind seit dem Höhepunkt der Krise stetig zurückgegangen und liegen jetzt bei 170 Basispunkten (Bp), nachdem sie in der Spitze 247 Bp bei europäischen Investment-Grade-Titeln und 565 Bp bei europäischen Hochzinsanleihen erreicht hatten.
In den USA hat die Federal Reserve unter Beweis gestellt, dass sie ausreichend Unterstützung für die Wirtschaft bereitstellen kann, um den Märkten noch einen stärkeren Schub zu geben als es die Europäische Zentralbank in Europa geschafft hat. So verzeichnen amerikanische Investment-Grade-Anleihen seit Jahresbeginn eine positive Gesamtrendite von 2,5 %, während US-Hochzinstitel -5,2 % verzeichnen und sich damit seit dem Tief von -20 % deutlich erholt haben. Die Risikoaufschläge sind in den USA sogar noch stärker zurückgegangen als in Europa: bei Investment-Grade-Titel von maximal 373 Bp auf 180 Bp und bei Hochzinsanleihen von 1100 Bp auf 643 Bp.
Alles in allem erholen sich die Märkte rasant, und die Spreads bei Unternehmensanleihen sehen momentan eher nach einer „ganz normalen“ Krise aus als nach einer tiefen Krise. Das wirft Fragen in Bezug auf eine mögliche Entkoppelung der Bewertungen an den Märkten von der Realwirtschaft auf, insbesondere im Hochzinsbereich, wo hohe Ausfallquoten drohen.
Wir haben an unserer aktuellen Anleiheallokation keine Änderungen vorgenommen. Bei den hochwertigen Anleihen rechnen wir damit, dass die Staatsanleihen der Peripherieländer in der Eurozone profitieren werden, wenn der Vorschlag der Europäische Kommission angenommen wird, während europäische Unternehmensanleihen mit Investment-Grade-Rating von den anhaltenden Anleihekäufen der EZB profitieren dürfte. Bei den renditestarken Anleihen geben wir Schwellenmarktanleihen den Vorzug vor Hochzinstiteln, weil wir in den Schwellenländern mehr Wertpotenzial sehen. Das Hochzinssegment halten wir für teuer und volatil, vor allem wenn es in der Eurozone nach der ersten Erholung noch einmal nach unten geht (Double Dip). Außerdem drohen im Hochzinssegment Zahlungsausfälle.…
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